Alle sind auf eine andere Art anders
Expedition: Schule
Projektname: FDQI-HU-MINT
Wissen und Bildung gehören zu den wichtigsten Ressourcen für den Wohlstand in Deutschland. Und doch lässt das Schulsystem eine beträchtliche Zahl von Schülerinnen und Schülern zurück. An der Humboldt-Universität sollen Lehrer:innen darauf vorbereitet werden, so zu unterrichten, dass möglichst alle in der Schulklasse ihr Potenzial entfalten können. Dafür haben Didaktik-Expert:innen an der Professional School of Education ein Modell entwickelt – und liefern mit einer Experimentier-App ein praktisches Instrument gleich mit.
Alle sind auf eine andere Art anders – das ist eine Lebensweisheit, aber auch der Leitspruch mancher Lehrer:innen, wenn sie die Diversität ihrer Schülerschaft anerkennen. Die Mädchen und Jungs unterscheiden sich nicht nur in ihrem Geschlecht, sie haben verschiedene Muttersprachen und darüber hinaus beim Lernen ganz unterschiedliche Stärken und Schwächen. Offenbar werden Schule und Unterricht in Deutschland aber nicht allen Kindern gerecht. Unter 15-jährigen Schüler:innen scheiterte 2018 jede/r fünfte an Grundkompetenzen im Lesen, in Mathe oder in den naturwissenschaftlichen Fächern, wie die EU-Kommission in ihren Indikatoren für eine nachhaltige Entwicklung angibt. Ein kleiner Teil der Schülerinnen und Schüler, nämlich immerhin sieben Prozent, verlässt die Schule sogar ganz ohne Bildungsabschluss.
Ob Kinder in der Schule Erfolg haben, hängt in Deutschland auch stärker vom Elternhaus ab als in anderen Industrieländern. Das hat nach zahlreichen PISA-Studien auch der Nationale Bildungsbericht 2020 bestätigt: Schüler:innen, die in einer Familie mit kleinem Einkommen aufwachsen oder deren Eltern eher niedrige Bildungsabschlüsse haben, haben es schwer. Besonders gefährdet sind Kinder von Alleinerziehenden und Kinder, deren Eltern einen Migrationshintergrund haben.
Schulfächer: Ansatzpunkt für Chancengleichheit
Wie kann Schule trotz der sozialen Unterschiede für Chancengleichheit sorgen? Wie können alle Schüler:innen in den Genuss einer Bildung kommen, die ihnen ermöglicht, ihre Potenziale zu entfalten? Das Projekt Fachdidaktische Qualifizierung Inklusion angehender Lehrkräfte (FDQI-HU) setzt bei den Lehrer:innen und bei ihren Fächern an. Sie sollen schon während ihres Studiums lernen, wie sie ihr Unterrichtsfach inklusiv vermitteln, also möglichst alle Schülerinnen und Schüler mitnehmen. Die wissenschaftliche Koordinatorin Julia Frohn beschreibt den Ansatz so: „Es geht uns nicht darum, Schüler:innen ihrer Besonderheit wegen herauszuheben. Wir drehen das um. Wir fragen: Wie können das Fach und der Unterrichtsgegenstand so gestaltet werden, dass Lernen in unterschiedlichem Tempo, auf unterschiedlichen Niveaus und auf unterschiedlichen Wegen möglich ist?“ Für Julia Frohn, die bis 2015 das Fach Deutsch unterrichtete, heißt das beispielsweise, dass sie für ihre Schüler:innen immer wieder Anknüpfungspunkte schafft: Indem etwa diejenigen, die lieber zeichnen als schreiben, eine Szene aus der Lektüre als Comic wiedergeben. Oder indem Schüler:innen die Auswahl der Schullektüre mitbestimmen. „Im besten Falle knüpft man damit an die Lebensrealität der Schüler:innn an“, sagt Frohn. Es lohne sich, die Wünsche der Lernenden ernst zu nehmen, Lehrer:innen könnten davon lernen.
Ein Modell für inklusives Lehren und Lernen: erprobte Konzepte neu justiert
Dieses Verständnis einer wechselseitigen Lehr- und Lernbeziehung im Klassenraum spiegelt sich in dem Didaktischen Modell für inklusives Lehren und Lernen (DiMiLL) wider, das die Wissenschaftler:innen aus den Disziplinen Erziehungswissenschaften, Förderpädagogik, Sprachbildung und Didaktik für Fächer wie Geschichte, Arbeitslehre und Englisch in der ersten Phase des Projekts seit 2016 entwickelt haben. Es soll angehenden Lehrer:innen Orientierung und Hilfestellung bieten: beim grundsätzlichen Nachdenken über Schule, aber auch bei der konkreten Unterrichtsvorbereitung.
Bei der Entwicklung des Modells haben die Pädagog:innen nicht bei Null angefangen. Sie knüpfen an traditionelle erziehungswissenschaftliche Ideen an. Etwa die von Wilhelm von Humboldt, dass Bildung nicht nur die Vermittlung von fachlichen Inhalten ist, sondern auch Persönlichkeitsbildung bedeutet. Und sie stützen sich auf erprobte didaktische Konzepte wie Kommunikation und Partizipation als Kernelemente des Unterrichtens. Für das Modell wurden sämtliche Ideen und Konzepte dann auf inklusives Lernen ausgerichtet. Daraus folgt für die Planung des Unterrichts, dass Lehrer:innen beispielsweise die Inhalte und Methoden stärker an den Fähigkeiten und Interessen der Schüler:innen ausrichten und Leistungskontrollen nicht als Beurteilung, sondern als Teil eines kontinuierlichen Lernprozesses verstehen. „Wir wollen zukünftigen Lehrkräften zeigen, dass Inklusion kein Hexenwerk ist, man kann da ganz systematisch herangehen“, sagt Julia Frohn. Gleichzeitig müsse man eingestehen, dass die Bedingungen für die Umsetzung an Schulen oft nicht die besten seien, weil Zeit und Geld – etwa für zusätzlich benötigtes pädagogisches Personal – häufig knapp sind.
App unterstützt das Lernen in Naturwissenschaften und Mathe
Ein ganz konkretes Instrument werden Lehrer:innen schon zum Schuljahr 2021/22 mit ihren Klassen ausprobieren können: Eine App für den Unterricht in Naturwissenschaften, die speziell dafür gemacht ist, die Flüchtigkeit von Lehr- und Lernprozessen einzufangen. „Wir haben bei Unterrichtsbeobachtungen festgestellt, dass Kinder bei komplexen Aufgaben wie beispielsweise Modellierungen in der Mathematik am Ende zwar Lösungen erhalten, aber nicht nachvollziehen können, wie sie zustande gekommen ist. Unsere App erlaubt es, den Lösungsprozess in kleinen Schritten nachzuvollziehen“, sagt Dominik Bechinie, Doktorand in der Mathe-Didaktik und Teil des sechsköpfigen Entwickler-Teams.
Vom Ausprobieren zum systematischen Lernen
Mit der App namens „Getch“ können Schüler:innen bei der Arbeit an Aufgaben in Mathe und Naturwissenschaften Sprachnachrichten aufnehmen, wenn ihnen eine Idee in den Kopf schießt oder diese als Textnotiz festhalten. Beim Experimentieren können sie außerdem Fotos oder Videos aufnehmen, um einzelne Schritte zu dokumentieren. Das ist noch nicht alles. Das entscheidende ist, dass auf der Arbeitsoberfläche der App sämtliche Aufzeichnungen und Dokumente – ob Bilder, Notizen oder Audios – zusammengeführt und sortiert werden können. Das soll Schüler:innen helfen, den Weg zur Lösung zu strukturieren und ihn nachvollziehbar zu machen.
Dominik Bechinies Kollege erklärt an einem Beispiel aus dem Physikunterricht, warum das so wichtig ist. „Kinder gehen erst mal ziemlich wild vor, wenn sie zum Beispiel herausfinden wollen, welche Gesetzmäßigkeiten hinter der Balkenwaage stecken. Sie hängen mal mehr oder mal weniger Gewichte an die Waage“, berichtet Stephen Mayer. Damit sie aus dieser Trial-und-Error-Phase herausfinden, brauchen sie Unterstützung. „Genau das leistet die App, indem sie Fotos und Notizen vom Experimentierprozesses festhält und den Schüler:innen hilft, ihre Beobachtungen zu systematisieren.“
Eine App für den inklusiven Unterricht muss möglichst barrierefrei konstruiert sein. Daher verwendet sie Schriften, die gut lesbar sind, die Darstellung ist kontrastreich, die Menüstruktur einfach und die Nutzung intuitiv. „Man braucht höchstens zwei Klicks, um überall hinzugelangen“, verspricht Dominik Bechinie. Diese erste Basisversion ist der Anfang. Schritt für Schritt soll die Barrierefreiheit der App ausgebaut werden, etwa um eine Vorlesefunktion, und ihr Einsatzgebiet um weitere Schulfächer erweitert werden.
„Lehrkräfteausbildung ohne Inklusion ist nicht mehr denkbar“
Parallel dazu – die zweite Projektphase läuft bis Ende 2023 – wird es für Julia Frohn und ihre Kolleg:innen darum gehen, das Lehr-und Lernmodell und seine einzelnen Bausteine um die Didaktik der naturwissenschaftlichen Fächer und der Mathematik zu erweitern. Dadurch können in Zukunft Lehramtsstudierende aller Fächer anhand des Modells lernen, wie sich inklusiver Unterricht gestalten lässt. Vor allem im Masterstudium wird diese fachdidaktische Perspektive für Inklusion vermittelt.
„Lehrkräfteausbildung ohne Inklusion ist nicht mehr denkbar“, sagt Julia Frohn. „Und für Studierende an der Humboldt-Uni sind Lehrveranstaltungen zu inklusivem Lehren und Lernen mittlerweile auch obligatorisch. Das ist sehr wichtig, dass das festgeschrieben ist“. Andere Universitäten sind noch nicht so weit. Das Lehrmaterial, das Julia Frohn und ihr Team für die Ausbildung angehender Lehrkräfte erarbeitet haben, ist aber schon mal für alle verfügbar – seitdem Vorlesungen und Seminare aufgrund der Corona-Pandemie nur online stattfanden auch in digitaler Form.
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